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Jorge Kanese – vorgestellt von seinem Übersetzer Léonce W. Lupette

Posted in Autoren / poets, Jorge Kanese, Léonce W. Lupette, translator / Übersetzer by lyrikline on 31. December 2018

Mit der einfachen Meldung, dass man die Gedichte von Jorge Kanese, Dichter aus Paraguay, jetzt auf Lyrikline hören und lesen kann, schien es uns nicht getan. Zu vielschichtig ist dieses Werk, zu komplex auch die Leistung seines deutschen Übersetzers Léonce W. Lupette. Wir freuen uns deshalb sehr, dass Léonce bereit war, uns eine Einführung zu Jorge Kanese, dessen Hintergrund und zu seinen Gedichten sowie deren sprachlichen Besonderheiten zu schicken. Wir bedanken uns sehr herzlich dafür und wünschen viel Freude an der künstlerischen Meisterleistung beider Dichter!

Jorge Kanese (geb. 1947 in Asunción)

Si uno quiere algo bueno, eso cuesta, Kanese dixit: Wenn man etwas Gutes anstrebt, so muss man dafür leiden.1 Gelitten hat Kanese im Gefängnis unter Stroessners Diktatur, wo er gefoltert wurde. Sein Sprechen und Schreiben waren Grund für und sind auch Reaktion auf Inhaftierung und Folter, der Gedichtband Paloma Blanca Paloma Negra (1982) wurde vom paraguayischen Regime verboten. Wer einzig Kaneses Gedichte aus den letzten Jahren liest, diese wilden Mischungen und Mutationen des Spanischen, Portugiesischen, Guaraní und anderer Sprachen, wird vielleicht nicht ohne Weiteres die Schritte erahnen, die dieser berserkerischen, kompromisslosen, radikal-ludischen Ausdrucksweise vorausgegangen sind.

Unter seinen Gedichten aus den achtziger Jahren finden sich sowohl zarte, melancholische Stücke, aus denen persönliche und politische Verlorenheit und Isolation, äußerste Gefährdetheit und Vergänglichkeit sprechen, als auch wütende und witzige Faustschläge. Ansätze einer orthographischen Deformierung und Verwendung einzelner Wörter aus dem Guaraní bietet bereits De guau la gente no cambia von 1986. Noch geht es dabei hauptsächlich um das Provozieren, um einen Bruch sowohl mit poetischen als auch mit politischen und gesellschaftlichen Systemen und Schemata. Wut und Unverständnis über eine dekadente, selbstzerstörerische Menschheit und deren Dogmatismen werden von Band zu Band ausgeprägter, ebenso der schwarze Humor, die derbe bis hardchorevulgäre Sprache und die grotesken Bilder und Figuren, nicht selten voller Bezüge auf Philosophie- und Literaturgeschichte, das Widerrufen eines Verses im nächsten. In diesem schonungslosen Bruch mit der Erwartungshaltung einer von jahrzehntelanger, kulturfeindlicher Diktatur geprägten und international isolierten Gesellschaft steckt dennoch etwas Utopisches. Denn was diese Gedichte angreifen, wird mitnichten einem nihilistischen Zerstörungspessimismus preisgegeben; so einfach macht Kanese es sich und seiner Leserschaft nicht. Das Wesen vor allem seiner jüngeren Texte ist radikal lebensbejahend – sie strotzen vor Lust an der Sprache, am Denken, am Dissens.

Gegen Ignoranz, Isolation, Nationalismen, Reinheitsphantasmen und fragwürdige Kanonisierungen behaupten Kaneses Gedichte ein Anderes, indem sie zunächst das scheinbar Naheliegende aufnehmen: die im Triple-Frontera-Raum alltägliche Mischung aus Portugiesisch, Spanisch und Guaraní. An der Grenze zwischen Paraguay und Brasilien wird Portuñol gesprochen, auf den Straßen Asuncións Jopará – eine nicht festschreibbare und von Sprachpuristen verachtete Mischung aus Spanisch und Guaraní. Diese Sprachsituation greift Kanese – eigentlich Canese, aber je nach Buch auch Kanexe oder Xanexe – auf, entwickelt sie weiter, erfindet ein unverkennbares eigenes Sprechen und Schreiben, in das auch italienische Grapheme oder englische Ausdrücke Einzug halten, ebenso wie Worte, die nach Guaraní oder Spanisch oder Portugiesisch klingen bzw. aussehen, die jedoch keiner standardisierten Sprache zuzuordnen sind. Silben und Laute werden gekappt, verdoppelt, verdreht und gedehnt, die Texte werden einerseits in ihrer Verfremdung unzugänglicher; andererseits ist (zumindest den Bewohnern der Triple Frontera) die sprachliche Geste der Mischung aus dem Alltag bekannt, und das Wesen dieser Sprachdeformierung ermöglicht Leserin und Leser außerdem zahllose Assoziationen, ja zwingt geradezu zum wilden Assoziieren, dazu, die Texte lesend in alle möglichen und unmöglichen Richtungen weiterzuspinnen.

In dieser genuin argobrasiguayischen Sprachsituation liegt aber auch das Problem für den deutschsprachigen Übersetzer. Spanisch und Portugiesisch lassen sich gut mischen, weil sie einander so ähnlich sind, und Guaraní und Spanisch haben eine lange gegenseitige Verpfropfungs- und Befruchtungsgeschichte, obwohl es höchst unterschiedliche Sprachen sind. Welche ähnliche Sprache grenzt auch geographisch ans Deutsche? Das Flämische? Oder doch besser das weiter entfernte britische Englisch? Und welche grundverschiedene Sprache gibt es, die in weiten Teilen des deutschsprachigen Raums gesprochen und auf der Straße gar noch gemischt wird? Denn darin bestehen die wichtigen strukturellen, geographischen und historischen Zusammenhänge, die es mitzuübersetzen gilt. Daher die Entscheidung für das Türkische in der Übersetzung: Es ist omnipräsent, in vielen deutschen Städten gibt es Viertel und Geschäfte, deren Schilder, Werbeplakate, Aushänge etc., die zumindest bilingual sind, und auf den Straßen und im Nahverkehr verwenden längst nicht mehr nur noch die türkisch-migrantischen Jugendlichen anatolische Vokabeln. Dieses sehr gestische und kreative Kauderwelsch ist, in vielen Fällen, ebenfalls eine Sprache Ausgegrenzter und Verdrängter, denen keine leicht zu benennende Identität eignet. Darin scheint eine adäquate Analogie zum Jopará zu liegen, vor allem was den performativen Aspekt betrifft, der ja auch Kaneses Gedichte auszeichnet. Das Türkische eignet sich zudem nicht zuletzt auch deshalb, weil es viele Phoneme mit dem Deutschen teilt, sie aber graphisch anders ausdrückt, beide Sprachen zugleich Phoneme und Grapheme kennen, die der anderen jeweils fremd sind – ein Verhältnis, das auch zwischen den von Kanese verwendeten Sprachen besteht und das für seine Schreibpraktiken grundlegend ist.

Zum Weiterlesen: Jorge Kanese: Die Freuden der Hölle, hrsg. u. Übersetzt v. L. Lupette, Wiesbaden: Luxbooks, 2014.

Léonce Lupette, Dezember 2018

1 So Kanese in einem Video bei einem Besuch auf just dem Gelände, auf dem er inhaftiert war und gefoltert wurde. Siehe Webseite zur Aufarbeitung des Stronismo: http://www.meves.org.py/

Lupette © Emilia Quipildor Albornoz_big

Léonce W. Lupette (geb. 1986 in Göttingen)

Zum Weiterlesen empfehlen wir
auch die Gedichte von Léonce W. Lupette.
Eine Auswahl findet man auf Lyrikline.
Seit kurzem sind sie dort auch in tschechischer und spanischer Übersetzung verfügbar.